Grundschule und dann? Zukunft oder Hartz IV? Kann Inklusion zukünftig eine Perspektive für alle Kinder bieten? Und wenn ja, wie?

In Deutschland entscheidet sich nach der Grundschulzeit (in einigen Bundeländern nach der Orientierungsstufe) bis jetzt immer noch, ob Kinder sich auf den Hartz-IV-Empfang vorbereiten oder auf ein Leben mit Perspektive und Zukunft.

 

Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen! Eigentlich stammt der Satz aus einem Märchen, aber für deutsche Kinder ist er Realität und zwar eine bittere. Wohin darf ihr Zug fahren? Nach der Grundschulzeit im Alter von zehn Jahren werden die Weichen für die Kinder gestellt. Zug Richtung Zukunft, Zug Richtung Hartz IV! Zukunft wird ab Realschule versprochen. Wer den Zug Richtung Hartz IV nimmt, sitzt zumeist in der Förder- oder Hauptschule.

 

144.000 Kinder gehen jedes Jahr verloren – eine Zahl, die 144.000 Namen hat

 

Jedes Jahr verschwinden in Deutschland 144.000 (DJI-Übergangspanel 2007; DJI = Deutsche Jugendinstitut) Jugendliche aus den benachteiligten Schulformen im sozialen Netz. Sie sind ohne Ausbildung und oftmals auch ohne Schulabschluss geblieben und haben keine Chance auf dem ersten Arbeitsmarkt integriert zu werden. Diese Jugendlichen haben zumeist schon einen langen Weg voller Enttäuschungen und Entmutigungen hinter sich und werden vom gesellschaftlichen System als nicht vermittelbar eingestuft. Sie sind von Schulsystemen über Arbeitssysteme weitergereicht worden, ohne dass man sich ihrer wirklich angenommen hätte, was nicht zwingend an den jeweiligen Mitarbeitern der Institutionen liegt. Vielmehr liegt es an den mangelnden Vernetzungen der Institutionen, die den Jugendlichen eine größere Hilfe wären, wenn sie partnerschaftlich zusammen arbeiten könnten. Ansätze sind da und trotzdem ist es aufgrund der Eigenverantwortlichkeit (natürlich auch gerade in finanzieller Hinsicht) der einzelnen Institutionen für diese nur bedingt möglich zu kooperieren und institutionsübergreifend zu denken oder zu handeln.

 

Mit Nachsorgeprogrammen versucht man den Sockel der Jugendlichen, der jedes Jahr um 144.000 Jugendliche anwächst, zu verringern. Einige Nachsorgeprogramme, die mal als Provisorium geplant waren, sind zu Standardprogrammen geworden. Mittlerweile ist die Problematik so weit angestiegen, dass von Seiten der Regierung Handlungsbedarf besteht. Der Handlungsbedarf ist auf finanzielle Faktoren zurückzuführen, da die Summe, die in die Nachsorge fließen muss immer höher wird. Dadurch bleibt allerdings auch immer weniger finanzieller Puffer für die Prävention. Eine Komponente ist noch gar nicht wirklich mit eingeflossen. Die Tragweite der gesundheitlichen Konsequenzen dieser Jugendlichen, die dem Hartz IV-Empfang ggf. bis zum Rentenalter ausgesetzt sind, die sich in Form von Depressionen und anderen psychischen Erkrankungen noch zeigen werden (bzw. schon zeigen), bringt noch weitere Folgekosten, die noch gar nicht berücksichtigt sind. Da in Deutschland hauptsächlich immer noch das selektive Bildungssystem herrscht, wird die Benachteiligung noch weiter gefördert als abgebaut. Interessant war hierzu auch die Aussage vom UN-Sonderberichterstatter Vernor Muñoz vom 21. März 2007:

 

Auszug aus seinem Bericht:

 

… 78. Eine der Hauptschwierigkeiten ist die Tatsache, dass die Bildungsbehörden den Vätern und Müttern von behinderten Kindern sehr wenig Spielraum lassen, für ihre behinderten Söhne und Töchter die optimale Schulform zu wählen. Es scheint eher so, als hätten die Väter und Mütter keinerlei Möglichkeiten, die gewünschte Bildungsstruktur für ihre Kinder auszusuchen, so als würde das System von vornherein die Chancen der Familienangehörigen und der Behinderten selbst einschränken.“ …

 

Der Bericht hat nach wie vor seine Gültigkeit. Eine Änderung des Bildungssystems müsste eigentlich aufgrund der UN Konventionen vorgenommen werden, aber gerade in Deutschland tut man sich recht schwer Inklusion im Bildungssystem umzusetzen. Im Gremium des Europäischen Bildungsrates möchten Deutschland und Österreich als einzige europäische Länder lieber das selektive Schulsystem beibehalten.

 

Wir müssen uns die Frage stellen, ob wir ein System ins Leben gerufen haben, dass wir in seinen gesamten Konsequenzen und Auswirkungen unterschätzt haben und dass sich hier und da verselbständigt hat. Und ob wir wirklich Teil davon sein wollen.

 

Der Föderalismus ist in im Falle der Inklusion zusätzlich hinderlich

 

In Deutschland ist Schulpolitik Ländersache. Dadurch bedingt gibt es 16 unterschiedliche Bildungspläne und somit auch 16 unterschiedliche Herangehensweisen an die Bildung. Die Karikatur von Thomas Plaßmann in der Zeitschrift „Informationen zur politischen Bildung” bringt die Thematik auf den Punkt: Zwei Jugendliche sitzen mit hängenden Schultern und niedergeschlagenem Blick auf einer Mauer. Das Mädchen fragt: „Was soll nur aus mir werden?” und der Junge fragt resigniert zurück: „Welches Bundesland?”

 

Dass jedes Jahr 144.000 Jugendliche verloren gehen, ist ein bundesweites Problem, das aber nicht auf Bundesebene gelöst werden kann, da der Grundstein zu dieser Problematik in der Schulzeit gelegt wird und somit im Entscheidungsbereich der Länder liegt. Die Problematik wiegt doppelt, da die Jugendlichen mit Verlassen der Schulphase in den Bereich der Arbeitsmarktpolitik gelangen die wiederum auf Bundesebene gelöst wird. Zitat aus einer mittlerweile schon lang zurückliegenden Zeitschrift „Informationen zur politischen Bildung“ Nr. 298, S. 4: „Gerade Schülerinnen und Schüler, Studentinnen und Studenten erfahren regelmäßig, dass ihr Alltag an Schulen und Universitäten und ihre Zukunft auch davon abhängt, in welchem Bundesland sie leben: Das Spannungsverhältnis ist erkennbar: Während die einen diese Vielfalt bei der Gestaltung von Bildungswegen als Ausdruck eines produktiven Wettbewerbs in der Schulpolitik werten, stößt sie bei anderen – besonders bei den Betroffenen – häufig auf Ablehnung.”

 

Grundschule – Förderschule/Hauptschule – Hartz IV – woher soll die Zuversicht kommen?

 

Perspektivlosigkeit macht sich unter den Jugendlichen breit. Prof. Dr. Jürgen Wittpoth hat es auch mit einer Studie an den Tag gebracht, sie rechnen sich einfach gar keine Chancen mehr aus. Sie werden still und ergeben sich dem Schicksal. Was sollen sie auch machen? Aber eine Frage haben sie doch, sie wird gestellt von Sophie, einer Förderschülerin: “Wie hat sich die Frau Merkel das eigentlich so gedacht? Wenn alle Förderschüler keinen Job bekommen, dann muss man die doch ein Leben lang bezahlen und irgendwie ist das doch jetzt schon alles zu viel, mit den ganzen Rentnern und so und dann noch wir. Wäre es da nicht viel besser, wir könnten auch eine Arbeit bekommen? Dann könnten wir doch sogar noch was einzahlen? Oder?” Sophie – ein Name, der vielleicht auch schon bald zu den nächsten 144.000 gezählt werden kann.

 

Besonders eindrucksvoll ist die heutige Realität für die Kinder im Video von Quarks & Co. dargestellt:

Wenn wir uns dieser Problematik stellen, sollten wir nicht an Zahlen denken, sondern daran, dass wir hier über die Zukunft von Kindern reden, über kleine Mitmenschen mit kleinen Seelen und kleinen wie großen Wünschen, die einen Namen tragen wie Sophie oder unseren eigenen Namen oder den unserer Kinder.

 

Angst, Ignoranz, Arroganz und die falschen Ansätze! Die unterschätzen Inklusionsbegleiter?

 

Wenn Angst der Nicht-Benachteiligten zur Behinderung wird, dann haben es die Benachteiligten doppelt schwer. Aber die Angst ist da, ob sie rational ist oder nicht. Angst vor Höhe oder vor Spinnen halten wir auch nicht für rational trotzdem gibt es sie. Mit der Angst vor Inklusion ist es ebenso, man darf sie nicht ignorieren und durch Logik ist diese Angst nicht zu nehmen, durch Einfühlungsvermögen in die Gefühlswelt des Beängstigten und dem Zusammenführen des Unbekannten mit dem Bekannten schon eher. Nicht zu unterschätzen ist auch der Zwang denen sich viele Inklusionsumsetzer gegenüber sehen. Wie soll ein Lehrer seine Angst äußern können ohne Repressalien zu befürchten? Wie soll er mit seiner Scham umgehen? Wie mit dem Druck der Eltern, die ja ggf. auch wieder von Ängsten angetrieben sind? Selbst wenn man Inklusion als Selbstverständlichkeit ansehen kann, heißt es noch nicht, dass man sich auch in der Lage sieht sie umzusetzen. Worte in die Tat umzusetzen ist herausfordernd und miteinander nicht vergleichbar.

 

Auf einmal wird man mit einer Welt konfrontiert, die man bis dato gar nicht kannte. Wie fühlt man sich in die Welt eines Benachteiligten ein, wenn man nie benachteiligt war? Wie soll sich ein Benachteiligter in die Welt eines Nicht-Benachteiligten einfühlen, wer er noch nie Nicht-Benachteiligt war?

 

Auch nicht unterschätzen sollte man den Aspekt, dass ein Entgegenwirken der Ängste noch erschwert wird, da man denen die entgegenwirken könnten, nur “regelkonforme” Rückmeldungen gibt, die den Anschein erwecken, dass kein weiterer oder ein an der eigentlichen Realität vorbeigeleiteter Handlungsbedarf besteht. Durch dieses letztlich auch nur allzu menschliche Verhalten kann es passieren, dass politische Entscheidungen aufgrund falscher Annahmen getroffen werden und somit dann tatsächlichen am eigentlichen Bedarf vorbei wirken, sich schlimmstenfalls sogar kontraproduktiv zeigen. Man kann der Angst nicht entgegenwirken und sie abbauen, wenn vor lauter Angst nicht die Wahrheit gesagt wird, bzw. nicht gesagt werden kann, da ansonsten Repressalien drohen.

 

Angst, Ignoranz und Arroganz sind die Behinderungen der sehenden Blinden! Wir wissen es zu meist besser und handeln doch anders.

 

Ob nun Benachteiligt oder Nicht-Benachteiligt, wir sind alle nur Menschen, mit der gesamten Palette der Gefühlswelt, die eben u. a. auch Angst, Scham, Frust, etc. beinhaltet und logischerweise eben bei beiden.

 

Hüten muss man sich dann vor falschen Ansätzen, die nur auf den ersten Blick menschenfreundlich scheinen, aber auf den zweiten und weiterfolgenden Blicken eher weitere ggf. sogar schlimmere Probleme kreieren, um nur ein Beispiel zu nennen die Vereinfachung von Prüfungen: 

Ein Ansatz der die Angst der noch Nicht-Benachteiligten schürt auch bald zu den Benachteiligten zu gehören. Und es ist ein Ansatz bei dem keiner gewinnt, derjenige der mehr zeigen kann, wird nicht gefordert, was dazu führt, dass er nicht sein ganzes Potential abrufen wird und dieses letztlich, wenn man den Erkenntnissen der Hirnforschung folgt, einbüßen wird. Und wer bescheinigt bekommt, wozu er nicht befähigt wurde (und vielleicht auch nicht befähigt werden konnte), kommt schnell an seine Grenzen, Frust und Scham werden Folgen sein. Letztlich ein Verlust für jeden einzelnen ebenso wie gesamtgesellschaftlich, da wir dann auf lange Sicht nicht mehr in der Lage sein werden, die derzeit aufgebaute Hochkultur zu erhalten, geschweige denn weiter zu entwickeln.

 

Niemand möchte benachteiligt sein oder benachteiligt werden und wir sollten Ansätze wählen, die niemanden zum Benachteiligten machen und die gibt es.

 

Wie Inklusion sich anfühlt und umgesetzt werden kann, zeigen uns unsere europäischen Nachbarn wie die Finnen, die Italiener, ...

 

Nicht Gesetze, Zwangsanordnungen oder ähnliches werden etwas ändern, sondern unsere Einstellung zu uns selbst und zum gemeinschaftlichen Miteinander ebenso wie unsere Vorbilder werden eine Veränderung herbei führen können. Niemand von uns liest in einem Gesetz nach wie er sich einem anderen Menschen gegenüber zu verhalten hätte.


Inklusion wird noch eine Weile ein spannender Prozess bleiben und wahrscheinlich am ehesten funktionieren, wenn alle Beteiligten sich zu mindestens fürs Verstehen auf den Blickwinkel des anderen einlassen werden.

 

Oder was denkt Ihr?

 

Herzliche Grüße im Namen vom #JedesElementZählt Team

Bettina

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