Gut gemeintes kann gut tun, muss es aber nicht ...

„Prima, drei Meter weit geworfen!“


Raúl Aguayo-Krauthausen, 1980 in Peru geboren, ist in Berlin aufgewachsen. Er hat „Osteogenesis imperfecta“, sogenannte Glasknochen, und sitzt im Rollstuhl. Der 33-Jährige studierte Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation und Design Thinking. All seine Aktionen aufzuzählen würde den Rahmen des Artikels sprengen, am besten mal einen Blick auf seine HP werfen: www.raul.de


Eine Erinnerung von Raúl Krauthausen zu seiner Teilnahme an den Bundesjugendspielen aus seinem Buch „Dachdecker wollt ich eh nicht werden“ (ISBN 978-3-499-62281-6) hat mich in unserer Auslegung von Empathie  bestätigt. Wie wichtig es ist, das „Gute“ zu Ende zu denken und zu hinterfragen, zeigen seine Schilderung wie er sich gefühlt hat als ihm eine pädagogische Mitarbeiterin etwas Gutes tun wollte, ab S. 42 ff.:



„Raúl, du kommst mit mir“, eröffnete mir die Pädagogische Mitarbeiterin, die erst vor Ort zu unserer Klasse gestoßen war. Friederike war als Unterstützung der Lehrer und der Schüler mit Behinderung meiner Klasse zugewiesen worden. Tatsächlich stand sie aber wie eine Art Zweitlehrerin allen Kindern mit Rat und Tat zur Seite. So war die Dreißigjährige mit dem kastanienbraunen Zopf näher an uns dran als die meisten Lehrer. Mich schob sie oft bei Ausflügen, oder sie half mir im Sportunterricht beim Umziehen und bei manchen Übungen. Hier, auf dem Sportplatz, brachte Friederike mich zum Wurfbereich, wo sich Jungen und Mädchen von anderen Schulen aufhielten, die bereits geworfen hatten oder darauf warteten, dass sie an die Reihe kamen.


„Ich bin gleich wieder da, ich kläre nur kurz, wann du dran bist“, meinte sie und verschwand, um mit dem Lehrer zu sprechen, der darauf achtete, dass keiner die Abwurflinie übertrat. Wobei „dran sein“, was meinte sie? Ich dachte, der Wurfbereich sei der Ort, von wo aus ich den anderen zusah und auf sie wartete, bis sie fertig waren. Somit musste es einen Grund fürs Tragen der Trainingshose geben, was ich jedoch nicht weiter hinterfragt hatte, als unser Lehrer uns in der letzten Sportstunde dazu aufforderte. Wie immer hatte ich mich genauso angesprochen gefühlt wie die anderen, ohne darüber weiter nachzudenken, wie für mich die Wettkämpfe verlaufen sollten.


Während ich in der brütenden Sonne auf die Rückkehr von Friederike wartete, sah ich, wie meine beiden Freunde mit sechs anderen Jungen im Laufen an den Start gingen. Olli hatte seinen Blick auf den Boden gerichtet und schüttelte ein letztes Mal seine Beine aus. Jannis steckte sein blaues T-Shirt in die Hose und fuhr sich durch die Haare. Das machte er immer, wenn er aufgeregt war. Auf irgendein Kommando, das ich auf die Entfernung nicht hören konnte, gingen alle acht gleichzeitig in die Hocke. Der Lehrer hinter ihnen hob die Arme, in seinen Händen eine Holzklappe, die er zusammenschlug. Der Knall war deutlich zu hören. Roter Staub wirbelte hinter ihnen auf, während sie über die Aschebahn rannten. Ich konnte sehen, dass Olli alles gab. Er setzte sich gleich an die Spitze. Sein Gesicht war bestimmt knallrot und vor Anstrengung leicht verzerrt, wie ich es schon oft erlebt hatte, wenn er spät dran war und sich beeilte, den Bus zu erreichen. Die anderen aus unserer Klasse feuerten ihn an, ich hörte, wie sie seinen Namen riefen.


Jannis wurde nach den ersten Metern von einem der anderen Jungen überholt, dann von noch einem. Olli schaffte es, als Erster ins Ziel zu kommen, so wie ich es mir schon fast gedacht hatte. Jannis, der am Ende Vierter geworden war, und er klopften sich gegenseitig auf die Schulter. Mein Freund Olli hatte gewonnen, wofür ich ihn – wie für alle seine anderen schulischen Leistungen – bewunderte. Während ich mich über seinen Sieg freute, kam mir in den Sinn, dass wir die Erfahrung – zumindest in diesem Bereich – nie teilen würden.


„So, Raúl, zwei Mädchen werfen noch, dann bist du an der Reihe“, meinte Friederike, die plötzlich neben mir stand und mir einen Ball in die Hand drückte.


Ich musste also tatsächlich werfen. Wie stellte sie sich das vor? Ich hatte noch nie in meinem Leben Schlagballweitwurf gemacht oder jemand anderem, der im Rollstuhl sitzt, dabei zugesehen. Wie sollte ich das anstellen? Doch bevor ich irgendetwas erwidern konnte, schob mich Friederike Richtung Abwurflinie.


„Jetzt zeig mal, was du kannst. Ich drücke dir alle beide Daumen.“


Ich wartete die beiden Teilnehmerinnen noch ab, hob dann langsam meine rechte Hand und zielte in Richtung der Markierung, die im Abstand von fünf Metern die Weite anzeigte. Der Ball war schwierig zu halten. Die Oberfläche war aus glattem braunem Leder, und ich hatte in der prallen Sonne angefangen zu schwitzen, was einen guten Griff zusätzlich erschwerte. So gut ich konnte, warf ich das Ding von mir und war froh, es los zu sein.


„Ja, nicht schlecht. Du hast noch einen zweiten Versuch“, sagt Friederike munter, nachdem der Ball aufgeprallt und die Weite von einer Lehrerin in Radlerhose notiert worden war. Erneut hatte ich den Ball in der Hand. Erneut warf ich ihn in die angezeigte Richtung, mit annähernd demselben Ergebnis.


„Prima, drei Meter.“


Noch an Ort und  Stelle schrieb Friederike meine Weite in eine Teilnahmeurkunde. Bevor sie sie in meinen Turnbeutel steckte, hielt sie mir das Stück Papier stolz unter die Nase und meinte: „Die kannst du nachher deinen Eltern zeigen.“


Ich fragte mich, wen meine Weite interessieren könnte. Von dem Schock, werfen zu müssen, hatte ich mich noch nicht erholt. Ich wäre in dem Moment am liebsten im Boden versunken, so unwohl hatte ich mich gefühlt. Das Ganze machte für mich keinen Sinn. Was sollte ich mit dem Nachweis über eine Leistung, die nicht mal mir als Teilnehmer wichtig war? Der Sportunterricht hatte mir Spaß gemacht, doch sportliche Ambitionen, geschweige denn ein Interesse daran, mich mit anderen zu messen, hatte ich nie auch nur ansatzweise verspürt. Und jetzt das: drei Meter! Wen interessierte das? Ich hatte ja keine Gegner in meiner Leistungsklasse. Ich schämte mich.


Anschließend brachte mich Friederike zum Kuchenbuffet, wo ich auf Hans-Jürgen wartete, einen Erzieher aus dem Schülerladen. Dort verbrachte ein Teil meiner Mitschüler, deren Eltern berufstätig waren, die Nachmittage. So auch Jannis und Olli. Hans-Jürgen, ein kleinerer Typ mit Dreitagebart und dunklen Jeans, brachte mich in die Lauterstraße. Zwei Stunden später trafen meine Freunde mit drei anderen aus unserer Klasse als Letzte ein. Sie hatten noch drei weiter Disziplinen absolvieren müssen.

„Das war echt cool, wie du den Ball geworfen hast. Der Lehrer auf Höhe der Vierzig-Meter-Marke zog sogar seinen Kopf ein. Gratuliere, das war super“, sagte Olli zu Jannis, als sie hereinkamen.

„Danke. Zeig mal deine Ehrenurkunde“, bat Jannis. „Schade, dass es keine Siegerehrungen oder Medaillen gab. War eigentlich irgendjemand besser als du?“


Olli zuckte die Achseln. Beide trugen immer noch ihre Sportsachen und machten einen ziemlich verschwitzen Eindruck. Der weitern Unterhaltung entnahm ich, dass außer mir nur noch meine Klassenkameradinnen mit der Lernbehinderung eine Teilnahmeurkunde erhalten hatten. Sie hatten zwar bei allem mitmachen können, aber wahrscheinlich nicht genug Punkte für eine Siegerurkunde erreicht.


„So Jungs, wollt ihr euch nicht langsam umziehen?“ Euer letzter Wurf ist nun eine Weile her, und wir haben mit dem Essen extra auf euch gewartet“, unterbrach Hans-Jürgen Olli und Jannis. Er war Anfang vierzig, und ich hatte ihn auf Anhieb gemocht, weil ich mit ihm so schön Blödsinn machen konnte. Einmal erzählte er, Fischstäbchen könnten vorwärts und rückwärts schwimmen. Sie würden sich dabei in Schlangenbewegungen fortbewegen. Die meisten von uns hatten ihm geglaubt, so auch ich. Das macht Sinn, dachte ich. Sie sehen an beiden Enden gleich aus. Später hinterfragte ich meine Logik und kam zu dem Schluss, dass sie doch nicht schwimmen könnten, sie hatten ja keine Augen.


Die Mutter eines Mädchens aus dem Schülerladen hatte für alle Spaghetti bolognese zubereitet. Den ganzen Nachmittag über waren die Ereignisse des Vormittags, die erzielten Weiten und gelaufenen Zeiten das vorherrschende Thema. Ich selbst hatte nicht viel zu berichten, umgekehrt sprach mich auch niemand auf meine Würfe an, was ich mir damit erklärte, dass sie es entweder nicht mitbekommen hatten oder es ihnen unangenehm war. Ich war froh, als um kurz nach 17 Uhr meine Mutter kam, um mich abzuholen.


„Raúl, du bist so still. Wie waren die Bundesjugendspiele?“, fragte sie mich, als wir zu Hause waren.

„Es war okay. Eigentlich hatte ich gedacht, dass ich nur zugucke“, erzählte ich.


„Du hast selber teilgenommen?“


„Ich musste werfen, wovon mir keiner etwas gesagt hatte. Die Urkunde ist in meinem Turnbeutel.“

Meine Mutter nahm sie heraus und warf einen Blick darauf. „Na, ist doch schön, dass du dabei warst.“

Ich nickte und sah ihr anschließend dabei zu, wie sie die Teilnahmeurkunde lochte und im Ordner mit den Zeugnissen und anderen Schulunterlagen abheftete.


Der Tag war schrecklich gewesen. Meinen Freunden hatte ich nicht gesagt, wie peinlich es mir gewesen war, werfen zu müssen. Meine Teilnahme an den Bundesjugendspielen schien der (vorläufige?) Höhepunkt eines Prozesses zu sein, der etwa ein Jahr zuvor begonnen und die große Sorge in mir hatte aufkommen lassen, wegen meiner Behinderung irgendwann nicht mehr dazuzugehören, dass mich meine Freunde deswegen nicht mehr mögen könnten.


...


Mehr zu seinem Buch, das jeder lesen sollte, der sich im Bereich der Inklusionsumsetzung bewegt, findet man auf seiner HP: www.raul.de/buch/



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